Die große Wohnungsnot um 1900
Ab Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, was wenig später als die Elektropolis Berlin bezeichnet wurde. Vor den Toren der Kernstadt auf dem Gebiet der heutigen Bezirke Mitte und Kreuzberg entstanden im Zuge der Industrialisierung zahlreiche große Fabriken. Viele Menschen zogen vom Land in das dicht bebaute Berlin, weil sie hofften, in den umliegenden Fabriken Arbeit zu finden. Aber es gab nicht ausreichend bezahlbare Wohnungen. Wo günstige Wohnungen existierten, wurde diese mehrfach geteilt und untervermietet. Ganze Familien wohnten in einem Zimmer, weil sie die Wohnung aus Kostengründen mit anderen Familien teilen mussten. Fließendes Wasser und elektrisches Licht waren die Ausnahme. Auch die Toiletten teilte man sich mit vielen anderen Bewohner/innen des Hauses. Sie waren meistens nicht in der Wohnung, sondern im Hof oder im Treppenhaus untergebracht. Das Elend in den so genannten Mietskasernen war groß. Zur Jahrhundertwende wurde in jedem noch so feuchten Kellerloch gewohnt. Man kann es sich kaum vorstellen, aber Berlin war nicht nur der bedeutendste Industriestandort Europas, sondern auch die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt. Speziell in den Arbeiterbezirken entstanden extrem einfache Quartiere im zweiten, dritten und vierten Hinterhof. Mit Oma und Opa, Eltern, Tanten und Geschwistern in einem Raum zu leben, war quasi Standard.
Auch die hygienischen Verhältnisse der damaligen Zeit sind aus heutiger Perspektive nur schwer vorstellbar: 9 von 10 Wohnungen hatten kein eigenes Bad. Auch elektrisches Licht oder fließendes Wasser waren die Ausnahme. Toiletten befanden sich im Hof oder im Treppenhaus und wurden von mehreren Mietparteien gemeinsam genutzt. Viele Wohnungen wurden mehrfach geteilt und nicht wenige Familien mussten sogar die Betten der Kinder an Fremde, sogenannte Schlafgänger, untervermieten, um finanziell über die Runden zu kommen. Ansteckende Krankheiten wie Syphilis, Rachitis oder Tuberkulose waren damals an der Tagesordnung. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verbreitete sich dann außerdem noch ein neuartiges, hoch ansteckendes Grippe-Virus. Die sogenannte "Spanische Grippe" kostete 20-50 Millionen das Leben und lenkte erneut den Blick auf die sehr beengten und hygienisch ungenügenden Wohnungsverhältnisse. Auch vor diesem Hintergrund war die Verbesserung der Hygiene ein zentrales Thema, als es galt, geeignete Mindeststandards für den Öffentlichen Wohnungsbau zu definieren.
Aufgaben zum Thema
- Aufgabe 1: Schaut euch Bilder typischer Wohnsituationen der damaligen Zeit an und überlegt, wie es wäre, wenn ihr mit euren Eltern, Großeltern und mehreren Geschwistern in einer sehr kleinen Wohnung ohne eigenes Bad leben würdet.
- Aufgabe 2: Vergleicht die Wohnungsnot im Jahr 1920 mit der Situation knapp hundert Jahre später. Wie haben die Menschen damals gewohnt? Wie passt das zu unseren heutigen Vorstellungen? Was ist vergleichbar, was weniger?
- Aufgabe 3: Sprecht wenn möglich auch mit älteren Verwandten oder Nachbarn, die ähnliche Wohn- oder Lebensumstände vielleicht noch erlebt haben könnten. Wie hat man – etwa kurz vor oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – gewohnt, geheizt oder gebadet?
- Aufgabe 4: Zwischen dem Ausbruch der COVID19-Pandemie Anfang 2020 und der "Spanische Grippe" um 1918 bestehen bestimmte Ähnlichkeiten. Stellt euch die Situation in einem typischen Hinterhof vor und überlegt, welche Chancen die Bewohner/innen hatten, sich vor der Ansteckung zu schützen.
- Aufgabe 5: Überlegt euch, welche typischen Merkmale der Architektur der sechs Welterbe-Siedlungen mit darauf zurückgehen könnten, dass man versuchte, die hygienische Situation zu verbessern. Vergleicht dies mit euren eigenen Corona-Erfahrungen: Welche Merkmale der damaligen Architektur machen auch heute noch Sinn, welche eventuell weniger?
- Hinweis: Einen kleinen Einblick in das Leben um 1900 zeigt eine Museumswohnung in der Dunckersraße im Berzirk Prenzlauer Berg.