Wohnstadt Carl Legien (1929–30)
Stories zur Wohnstadt Carl Legien
01Berlin, Alexanderplatz
Schon damals war der mit der Straßenbahn schnell erreichbare Alexanderplatz das Berliner Verkehrsdrehkreuz schlechthin. Auch heute spürt man im Zwischengeschoss des U-Bahnhofs das in vielen berühmten Romanen, Filmen und Fernsehserien über das Berlin der 1920er-Jahre geschilderte dichte Gedränge der damals aufstrebenden Metropole. Vor allem wenn morgens viele Menschen, aus verschiedenen Richtungen kommend, kreuz und quer zu den einzelnen Bahnsteigen, Ein- und Ausgängen hetzen, kommt man sich vor wie der Bewohner eines Ameisenhaufens. Logisch, dass auch knapp vier Kilometer entfernt, in der Nähe der heutigen S-Bahnhofs Prenzlauer Allee, der Baugrund für die Wohnstadt Carl Legien nicht billig zu haben war.
02Straßennamen und Propaganda
Die Namensgebung von Straßen ist oft Ausdruck der jeweiligen politischen Machtverhältnisse. So war es auch in der Wohnstadt Carl Legien. Viele der kleineren Straßen wurden 1931 nach bekannten Gewerkschaftlern oder SPD-Mitgliedern benannt. Das war den zwei Jahre später an die Macht kommenden Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Kurzerhand wurden die Straßen daher bereits 1933 umbenannt. Dieses Mal nach Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkriegs in Belgien, was der Anlage kurzzeitig den Beinamen der "Flamensiedlung" eintrug. Die heutigen Straßennamen stammen von 1952 und 1954, als die Straßen im Umfeld der im Ost-Teil Berlins gelegenen Anlage abermals umbenannt wurden. Sie erinnern größtenteils an kommunistische Widerstandskämpfer, wie Erich Weinert, Martin Trachtenbrodt oder Arthur Sodtke. Ähnliches passierte auch in der Hufeisensiedlung sowie bei den damals monatlich herausgegebenen Mietermagazinen, deren Gestaltung und Themen sich nach der erfolgten Gleichschaltung der Wohnungsbaugesellschaft GEHAG und der ihr angegeliederten EINFA ab 1934 radikal veränderte.
03Genial: Der natürliche Kühlschrank
An der einen Seitenwand der Loggien findet sich in vielen Siedlungen des Architekten Bruno Taut unscheinbare Türen. Direkt daneben findet sich dann das charakteristische, ab 1927 fast überall verbaute GEHAG-Küchenfenster mit zwei gegeneinander versetzten Horizontalstreben plus einem kleinen, in die verputzte Wand eingelassenem Lochblech. Hintergrund ist, dass sowohl die Wandschränke innerhalb der Loggien, als auch die häufig in einer, zur Außenwand gelegenen Küchenecke vorgesehenen Einbauschränke oft zur Lagerung von leicht verderblichen Lebensmitteln benutzt wurden. Das Lochblech dient hierbei als Lüftungsöffnung und sorgt gleichzeitig für etwas kühlere Temperatur.
Der Sinn dieser Konstruktion erschließt sich, wenn man weiß, dass elektrische Kühlschränke erst in den 1950er-Jahren üblich wurden und dieser natürlich temperierte Schrank je nach Jahreszeit auch sehr gut zur Lagerung leicht verderblicher Lebensmittel wie etwa Eiern, Milch oder Käse geeignet ist.
Eine zweite Alternative für die Lagerung von Lebensmitteln befand sich jeweils unter dem charakteristisch vierteiligen Küchenfenster mit seinem tiefen, auch als Arbeitsfläche dienenden, Fensterbrett. Hier integrierte man einen halbhohen Schiebetürenschrank, an dessen Rückwand sich ebenfalls ein kleines (auch im Bild zu sehendes) Lüftungsgitter befand. Das kleine Fenstermodul in der oberen Ecke ist über einen spezielle Griffkonstruktion im Inneren um etwa 40 Grad kippbar und dient für moderates Lüften beim Kochen. Das auf Brust- bis Schulterhöhe zu öffnende Fenster daneben erlaubt kräftiges Stoß- und Querlüften – und zwar auch ohne dafür extra die dahinter liegende Fensterbank frei zu räumen.
Für die Wohnstadt Carl Legien wurde eine L-förmig erweiterte, nicht quadratische Sonderform des Fensters entwickelt, bei der anstelle des einen sonst bauchhoch zu öffnenden Fensterflügels eine bodentiefe Tür integriert ist, die den Austritt auf die Loggia erlaubt.
05Farbe als "gebaute Lebensfreude"
Wie der Architekt Bruno Taut es verstand, den von ihm entworfenen Siedlungen durch den Einsatz von Farbe auch etwas Heiteres zu verleihen, lässt sich sowohl in der Gartenstadt Falkenberg, als auch in der Hufeisensiedlung und der Wohnstadt Carl Legien gut ablesen.
Taut benutzte Farben, um innerhalb des ab 1924 favorisierten kostengünstig realisierbaren Typenbaus ein Maximum an Varianten zu erzeugen. Um Monotonie zu vermeiden, gestaltete er die Fassaden der Häuser und Wohnblocks farblich so, dass optische Paare und Serien entstanden. Einzelne Bauteile – wie Treppenhäuser, Dachgeschosse, die balkonartigen Loggien oder auch nur einzelne Fensteraussparungen im Mauerwerk – wurden oftmals farblich abgesetzt und korrespondierten mit den Farben des damals bereits durchgefärbt aufgebrachten Putzes. Nicht selten unterschied Taut auch zwischen den Vorder- und Rückseiten der Gebäude. Er tat dies nicht nur aus künstlerischen Erwägungen heraus, sondern auch, um so die raumbildende Wirkung von Farbe zu nutzen oder auch um zwischen dem farblich differenzierten Lichteinfall der Morgen- und Abendstunden zu unterscheiden.
Ein besonderes augenfälliges Stilmerkmal in der Hufeisensiedlung sind die konstruktiv und farblich variierten Eingangstüren. Ab etwa 1927 geht Taut dann dazu über, auch die Fensterkonstruktion farbig zu differenzieren. Durch diese Mehrfarbigkeit wirken die – fast alle als Kastendoppelfenster in Holz realisierten – Fenster nicht nur bunter, sondern auch deutlich filigraner als dies bei Holzkonstruktionen normalerweise der Fall ist. Auch für die Treppenhäuser und Innenräume bevorzugte der Architekt starke Farben. Um seine Ideen, Ansätze und Theorien zu verbreiten, betätigte sich Taut auch als Autor und Publizist. Zusätzlich engagierte er sich in verschiedenen Bewegungen wie etwa dem Arbeitsrat für Kunst oder dem Deutschen Werkbund. Seine Schriften waren so populär, dass sich damals sogar eine eigene Redewendung bildete, nämlich die, seine Wohnung zu „tauten“. Auf diesen Aspekt spielt auch der Name des als Ferienhaus mietbaren Museums „Tautes Heim“ an, einem Reihenhaus in der Hufeisensiedlung, wo auch alle Innenraumfarben streng nach Befunden der Farbrestauratorinnen wieder hergestellt wurden.
05Wiederhergestellte Fassaden-Typo
Fassaden-Typografie sind ein Thema, das in der Denkmalpflege oft wenig Lobby hat. In vielen Siedlungen der 1920er Jahre wurden an der Fassade montierte Schriften jedoch sehr bewusst als Werbeträger eingesetzt. Diese Installationen zielten nicht nur auf die Bewohnerschaft ab, sondern sollten vor allem auf Fotos in Baufachzeitschriften und Tagespresse ihre Wirkung entfalten. Der imposante Schriftzug in der Wohnstadt Carl Legien etwa war auf etlichen zur Bauzeit publizierten Fotos zu sehen. Unter den Nationalsozialisten wurde er wegen der Referenz auf Carl Legien ersatzlos entfernt und war daher lange Zeit nur älteren Bewohnern oder fotokundigen Historikern ein Begriff.
Erst aus Anlass des 90-jährigen Jubiläums der Wohnungsbaugesellschaft GEHAG wurden der knapp sieben Meter hohe und insgesamt über 25 qm große Schriftzug 2014 anhand historischer Fotos digitalisiert. Die als Vektorgrafik erfassten Lettern wurden dann in Bronze gegossen und als originalgetreue Replik am alten Ort montiert.
Dies geschah im Zuge der feierlichen Jubiläumsveranstaltung am 9. April 2014, ging aber auf eine Privatinitiative in der Hufeisensiedlung zurück. Hier wurden – angetrieben aus bürgerschaftlichem Engagement – bereits 2009 an das verloren gegangene Original angelehnte Fassadenschriften wiederhergestellt, zunächst beim Restaurant im Hufeisen, wo zunächst ein völlig anderer, eher altdeutsch-bräsige "Gemütlichkeit" suggerierender Entwurf realisiert werden sollte. Dieses Beispiel machte dann Schule. Es wurde wenig später zum Anlass, genommen – mit der Infostation Hufeisensiedlung, der Apotheke und dem Büro der Wohnungsvermietung – weitere Ladenlokale passend zum Stil der Bauzeit zu beschildern.