Siedlung am Schillerpark (1924–1930)
Stories zur Siedlung am Schillerpark
01Inspiration "Amsterdamer Schule"
Parallel zu dem reformorientierten Wohnungsbau und der Gartenstadt-Bewegung in Deutschland entwickelte sich in den Niederlanden ab 1916 die leicht expressionistische "Amsterdamer Schule". Ihr folgte etwas später dann die deutlich sachlicher geprägte "Rotterdamer Schule". Beide waren optisch stark von Ziegelfassaden geprägt und dürften Taut bei der Planung der Siedlung am Schillerpark inspiriert haben. Die Ausgangslage in beiden Ländern war sehr ähnlich: Auch in den Niederlanden gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Wohnungsnot. Auch hier versuchten, Politiker und Architekten, passende Lösungen zu finden.
Die sicher bekannteste Anlage der reformorientierten Architektur niederländischer Prägung ist der im Nordwesten Amsterdams gelegene Komplex "Het Ship" (dt. "das Schiff") von Michel de Klerk – ein Komplex aus sehr phantasievoll und abwechslungsreich gestalteten Bauten aus rotem Backstein. Neben dem Entwurf de Klerks, dürfte auch die Stadterweiterung im Süden Amsterdams eine Inspirationsquelle für die deutschen Kollegen gewesen sein. Sie beruhte auf 1915 von Hendrik Petrus Berlage vorgelegten städtebaulichen Entwürfen. Die wenig später in Rotterdam entstandene Architektur, lässt sich klar dem Stil des Neuen Bauens zuordnen. Hier ist insbesondere die Siedlung "Tusschendijken" von Jacobus Johannes Pieter Oud aus den Jahre 1921-23 zu nennen, die Taut vor Aufnahme der Arbeiten zur Siedlung am Schillerpark besucht hat. Derartige Studienreisen zu den Werken ausländischer Kollegen zeigen, dass eine rein nationale Sicht auf unsere Bau- und Kulturgeschichte der damaligen Zeit meist zu kurz greift: Oft sind die scheinbar originären großen Ideen einzelner "Nationalhelden" in Wirklichkeit Teil eines länderübergreifenden Zeitgeistes mit regionalen Ausprägungen und Ausdruck der gegenseitigen Inspiration.
02Querlüften im "Dreispänner"
Die größeren, rechts und links vom Treppenhaus abgehenden Wohnungen haben Fenster zu Straßen- und Hofseite hin. Das erlaubt, dass die Bewohner "querlüften" und Durchzug machen können. Die etwas aus der Fassade hervorstehenden Loggien gehören jeweils zu der kleinsten Wohnung der Etage. Der nur 40 qm große Wohntyp geht mittig vom Treppenhaus ab. Das bedeutet, dass er keine zwei gegenüberliegenden Seiten hat, sondern sich allein zur Wohnhofseite orientiert. Um auch hier trotzdem für gute Luftzirkulation zu sorgen, griff Taut auf einen Trick zurück, indem er diese Wohnung wie eine Art Schublade aus der Fassade hervorzog und an den beiden "Seitenwänden" der Schublade zwei gegenüberliegende Fenster einbaute, was den Luftaustausch deutlich verbesserte.
02Das halbhohe Trockengeschoss
In allen fünf nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Siedlungen findet sich das Phänomen des "Trockengeschosses". Gemeint ist der obere Abschluss der flach gedeckten Wohnblöcke mit einem knapp über zwei Meter hohen Geschoss mit kleineren Fenstern. Dieses dienten damals für die Bewohner als Ort, wo man gemeinschaftlich seine Wäsche zum Trocknen aufhängen konnte. Diese speziell für Bruno Taut typische Bauweise mit einem halbhohen, abschließenden, nicht zum direkten Wohnen genutzten Geschoss mag man heute als Platzverschwendung einstufen. Man muss dabei aber auch berücksichtigen, dass das Trockengeschoss nicht nur hygienische und soziale Funktionen erfüllte, sondern auch – heute wie damals – ökologisch einen Vorteil darstellt, da es für zusätzliche Wärmeisolation und damit geringere Heiz- und Energiekosten sorgt.
03Vom Klo zur Ausstellung
Der kleine runde Pavillon in der nördlichen Ecke des Schillerparks hat eine besondere Geschichte. Er war früher ein öffentliches Pissoir. Das einstige Klohäuschen wird heute von dem Pächter des Kiosks mit betrieben und zeigt in den Sommermonaten einige, etwas in die Jahre gekommene Ausstellungstafelan. Mit mehr als drei Personen lässt sich der Raum aber kaum nutzen.
04Mehr-Generationen-Quartier
Die im Zuge des seniorengerechten Aus- und Umbaus der Gesamtanlage erzielten Erfolge eröffnen noch eine weitere Chance: Da die Siedlung mit ihrer relativ zentrumsnahen Lage, Park und Spielplätzen auch für junge Familien attraktiv ist, eignet sie sich zusammen mit ihren behutsamen Erweiterungsbauten für Senioren als Quartier, wo ältere Menschen sozial gut integriert sind und sich etwa als Ersatz-Großeltern einbringen können. Eine Wohnform, der Städteplaner und Soziologen viel abgewinnen können, da gerade Berlin auch als Hauptstadt der Singles und Alleinerziehenden gilt und es oft keine traditionellen Familienstrukturen gibt, bei denen Oma und Opa in Reichweite sind.
05Die Brüder Max und Bruno Taut
Aufgrund der Kriegszerstörungen mussten Teile der Siedlung wiederaufgebaut werden. Diese Arbeiten erfolgten 1951 und wurden von Brunos jüngerem Bruder Max Taut geleitet. Beide Brüder arbeiteten gemeinsam im Büro Taut & Hoffmann, hielten ihre Bauaufgaben aber streng getrennt. Während der vier Jahre ältere Bruno Taut auf Siedlungen und große Wohnanlagen spezialisiert war, plante Max Taut vorrangig Schul- und Verwaltungsgebäude. 1933 ging Bruno Taut ins Exil, wo er bereits 1938 verstarb. Max Taut hingegen praktizierte auch nach dem Krieg als Architekt in Berlin. Während der Nachkriegszeit realisierte er in zwei von Brunos Siedlungen Erweiterungen. In der ansonsten komplett dreigeschossig geplanten Siedlung am Schillerpark realisierte er 1951 an der Ecke Bristol- und Dubliner Straße einen kleinen Aufbau als viertes Geschoss. In der Britzer Hufeisensiedlung plante er in den späten 1950er-Jahren einige Blöcke, die sich am südwestlichen Ende jenseits der Parchimer Alle und der südlichen Paster-Behrens-Straße anschließen.