Hufeisensiedlung Britz (1925–30)
Stories zur Hufeisensiedlung
01Der Teich aus der Eiszeit
Die Teichsenke im Zentrum des Hufeisens stammt noch aus der Eiszeit. Damals entstand nämlich die für den Ortsteil typische Bodenstruktur mit ausgeprägten Lehmkuhlen, sogenannten Pfuhlen. So bezeichnet man natürliche Senken, wo so wenig Wasser abfließt, dass sich allein durch natürliche Regenfälle ein halbwegs konstanter Wasserspiegel ergibt. Der Architekt Bruno Taut meinte später in seinen Memoiren, er hätte mit dem Bau des Hufeisens lediglich auf die schon vorhandene Teichanlage reagiert. Das stimmt allerdings so nicht, denn der Uferverlauf wurde während der Bauarbeiten deutlich begradigt.
01Achtung, Berliner Schnauze
In der Ringsiedlung Siemensstadt befindet sich eine Gebäudezeile Otto Bartnings, welche in weitem Bogen parallel zur Bahntrasse verläuft. Sie wurde von den Berlinern auf den Namen Der Lange Jammer getauft. Man kritisierte, dass Bartning die Monotonie der Mietskasernen nur durch eine moderne Variante ersetzt hätte.
Ein ähnlicher Bau befindet sich in der Hufeisensiedlung, die Taut im Auftrag der politisch links stehenden Wohnungsbaugesellschaft GEHAG entwarf. Hier wurden die zur Abgrenzung beider Siedlungsteile dienende Zeile gleich mit zwei sprechenden Namen bedacht. Hier sprach man wahlweise von der Roten Front oder der Chinesischen Mauer.
Auch in der Waldsiedlung "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf erforderte die Lage einen ähnlich lang gestreckten Bau. Hier entwarf Taut ein Gebäude, das sogar noch ein wenig länger ist. Und auch hierfür fanden die nicht auf den Mund gefallenen Berliner/innen einen geeigneten Namen und bezeichneten die Zeile als den Peitschenknall.
Und natürlich sorgte auch die für Taut typisch intensive Farbigkeit für entsprechende Namens-Kreationen: Die Gartenstadt Falkenberg wurde Kolonie Tuschkasten genannt. Die Waldsiedlung Zehlendorf erhielt hingegen den Beinamen Papageien-Siedlung.
02Architektur und Emanzipation
Zur Jahrhundertwende herrschten noch sehr klare Rollenbilder. Die Zuständigkeit für Kinder, Küche und Haushalt wurde klar bei den Frauen gesehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte – im Zuge der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen – auch bei einigen der damals meist männlichen Planer ein erstes Umdenken ein. In diesem Zusammenhang wurde auch die Gestaltung von Küchen und Arbeitsräumen zu einem Gradmesser und Labor des sozialen Fortschritts und der Emanzipation. Mit dem Design einer Küche verbindet sich nämlich die Frage, welche Wertschätzung der Hausarbeit beigemessen wird – sowie von wem und auf welche Weise diese verrichtet werden soll. Hierbei lohnt sich besonders der Vergleich der Konzepte des "Einküchenhauses", der berühmten "Frankfurter Küche" und der unter Leitung von Bruno Taut und Franz Hillinger entwickelten "GEHAG-Küche". Diese ist zwar in keiner der hier detailliert beschriebenen sechs Welterbe-Siedlungen damals verbaut worden. Sie wurde jedoch für die Waldsiedlung "Onkel Toms Hütte" entwickelt, die in vielen Punkten (wie etwa Grundrissen und Bauteilen) eng auf den Entwürfen zur Hufeisensiedlung aufbaut. Ein Exemplar der GEHAG-Küche ist daher heute in der Ausstellung in der Infostation Hufeisensiedlung installiert. Ein Exemplar der Frankfurter Küche findet sich zum Beispiel im Berliner Werkbund-Archiv.
03Ereignisse während der NS-Zeit
Nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler wurde die von politisch linken Kräften ins Leben gerufene Wohnungsbaugesellschaft GEHAG bereits gleichgeschaltet. Mit dem Austausch des Managements änderte sich auch die Vermietungspolitik. Die neuen Mieter kamen oft gezielt aus dem rechten Lager. Manche fingen an, ihre Nachbarn zu überwachen. Unter diesen Bedingungen brauchte es dann einiges an Zivilcourage, an Nationalfeiertagen nicht den Hakenkreuz-Wimpel aus dem Fenster zu halten. Es kam zu mehreren Verhaftungen, bei denen linke Aktivisten aus Ihren Häusern und Wohnungen abtransportiert und in Lager gebracht wurden. In der Siedlung sowie in Ihren angrenzenden Bereichen erinnern mehrere Stolpersteine an die Britzer Opfer der Nationalsozialisten. Einige wurde 2017 entwendet, aber – auf Basis von Spenden – umgehend ersetzt. Auch sonst zeigt man in der Siedlung Courage und engagiert sich gegen Versuche rechtsgerichteter Kreise, vor Ort Stimmung zu machen. Dem wohl prominentesten Opfer des NS-Staats, dem Publizisten Erich Mühsam, ist ein eigener Gedenkstein gewidmet. Was zur Zeit des Dritten Reichs im Umfeld der Großsiedlung Britz passierte, ist gut erforscht und dokumentiert. Dies ist u.a. dem in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Museum Neukölln zu verdanken, das im Rahmen der 2013 gezeigten Ausstellung "Das Ende der Idylle" zahlreiche Biografien recherchiert hat.
Die Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus im Bereich der Großsiedlung Britz wurde im Rahmen der Ausstellung "Das Ende der Idylle" gründlich aufgearbeitet. Zu der im benachbarten Museum Neukölln 2013 gezeigten Ausstellung ist ein umfassender Katalog erschienen: "Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933", Udo Gößwald (Hg.), Berlin 2018, 2. Auflage, 407 Seiten, ISBN 978-3-9809348-8-6.
03Genial: Der natürliche Kühlschrank
An der einen Seitenwand der Loggien findet sich in vielen Siedlungen des Architekten Bruno Taut unscheinbare Türen. Direkt daneben findet sich dann das charakteristische, ab 1927 fast überall verbaute GEHAG-Küchenfenster mit zwei gegeneinander versetzten Horizontalstreben plus einem kleinen, in die verputzte Wand eingelassenem Lochblech. Hintergrund ist, dass sowohl die Wandschränke innerhalb der Loggien, als auch die häufig in einer, zur Außenwand gelegenen Küchenecke vorgesehenen Einbauschränke oft zur Lagerung von leicht verderblichen Lebensmitteln benutzt wurden. Das Lochblech dient hierbei als Lüftungsöffnung und sorgt gleichzeitig für etwas kühlere Temperatur.
Der Sinn dieser Konstruktion erschließt sich, wenn man weiß, dass elektrische Kühlschränke erst in den 1950er-Jahren üblich wurden und dieser natürlich temperierte Schrank je nach Jahreszeit auch sehr gut zur Lagerung leicht verderblicher Lebensmittel wie etwa Eiern, Milch oder Käse geeignet ist.
Eine zweite Alternative für die Lagerung von Lebensmitteln befand sich jeweils unter dem charakteristisch vierteiligen Küchenfenster mit seinem tiefen, auch als Arbeitsfläche dienenden, Fensterbrett. Hier integrierte man einen halbhohen Schiebetürenschrank, an dessen Rückwand sich ebenfalls ein kleines (auch im Bild zu sehendes) Lüftungsgitter befand. Das kleine Fenstermodul in der oberen Ecke ist über einen spezielle Griffkonstruktion im Inneren um etwa 40 Grad kippbar und dient für moderates Lüften beim Kochen. Das auf Brust- bis Schulterhöhe zu öffnende Fenster daneben erlaubt kräftiges Stoß- und Querlüften – und zwar auch ohne dafür extra die dahinter liegende Fensterbank frei zu räumen.
Für die Wohnstadt Carl Legien wurde eine L-förmig erweiterte, nicht quadratische Sonderform des Fensters entwickelt, bei der anstelle des einen sonst bauchhoch zu öffnenden Fensterflügels eine bodentiefe Tür integriert ist, die den Austritt auf die Loggia erlaubt.
05Farbe als "gebaute Lebensfreude"
Wie der Architekt Bruno Taut es verstand, den von ihm entworfenen Siedlungen durch den Einsatz von Farbe auch etwas Heiteres zu verleihen, lässt sich sowohl in der Gartenstadt Falkenberg, als auch in der Hufeisensiedlung und der Wohnstadt Carl Legien gut ablesen.
Taut benutzte Farben, um innerhalb des ab 1924 favorisierten kostengünstig realisierbaren Typenbaus ein Maximum an Varianten zu erzeugen. Um Monotonie zu vermeiden, gestaltete er die Fassaden der Häuser und Wohnblocks farblich so, dass optische Paare und Serien entstanden. Einzelne Bauteile – wie Treppenhäuser, Dachgeschosse, die balkonartigen Loggien oder auch nur einzelne Fensteraussparungen im Mauerwerk – wurden oftmals farblich abgesetzt und korrespondierten mit den Farben des damals bereits durchgefärbt aufgebrachten Putzes. Nicht selten unterschied Taut auch zwischen den Vorder- und Rückseiten der Gebäude. Er tat dies nicht nur aus künstlerischen Erwägungen heraus, sondern auch, um so die raumbildende Wirkung von Farbe zu nutzen oder auch um zwischen dem farblich differenzierten Lichteinfall der Morgen- und Abendstunden zu unterscheiden.
Ein besonderes augenfälliges Stilmerkmal in der Hufeisensiedlung sind die konstruktiv und farblich variierten Eingangstüren. Ab etwa 1927 geht Taut dann dazu über, auch die Fensterkonstruktion farbig zu differenzieren. Durch diese Mehrfarbigkeit wirken die – fast alle als Kastendoppelfenster in Holz realisierten – Fenster nicht nur bunter, sondern auch deutlich filigraner als dies bei Holzkonstruktionen normalerweise der Fall ist. Auch für die Treppenhäuser und Innenräume bevorzugte der Architekt starke Farben. Um seine Ideen, Ansätze und Theorien zu verbreiten, betätigte sich Taut auch als Autor und Publizist. Zusätzlich engagierte er sich in verschiedenen Bewegungen wie etwa dem Arbeitsrat für Kunst oder dem Deutschen Werkbund. Seine Schriften waren so populär, dass sich damals sogar eine eigene Redewendung bildete, nämlich die, seine Wohnung zu „tauten“. Auf diesen Aspekt spielt auch der Name des als Ferienhaus mietbaren Museums „Tautes Heim“ an, einem Reihenhaus in der Hufeisensiedlung, wo auch alle Innenraumfarben streng nach Befunden der Farbrestauratorinnen wieder hergestellt wurden.
05Privatisierungen der 1990er-Jahre
Sieht man von einem Abschnitt des Romanshorner Wegs in der Weißen Stadt in Reinickendorf ab, ist die Hufeisensiedlung die einzige der sechs Welterbesiedlungen, die sich heute nicht mehr in der Hand eines einzelnen Besitzers befindet beziehungsweise ganzheitlich als Genossenschaft verwaltet wird: 1998 verkaufte der Berliner Senat die GEHAG und ihren großen Bestand an Häusern des öffentlichen Wohnungsbaus. Anschließend wurde das Gesamt-Portfolio mehrfach über die Börse weiterverkauft. Schrittweise ab dem Jahr 2000 konnten private Eigentümer die 679 Reihenhäuser des Denkmalensembles erwerben. Eine Politik, die man heute wohl nicht wiederholen würde. Es hat sich nämlich erwartungsgemäß gezeigt, dass der denkmalpflegerische Erhalt des Ensembles wesentlich anspruchsvoller geworden ist und der Verkauf auch der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten Vorschub geleistet hat. Anders als in den 1990er- Jahren gilt heute die politische Maxime, dass die Bestände der städtischen Wohnungsbaugesellschaften wieder aufgestockt werden sollen. Dies würde der Politik erlauben, mehr Einfluss auf die Entwicklung des Mietniveaus zu nehmen.
06Projekte zur Denkmalvermittlung
Die Privatisierung brachte die Denkmalbehörden in eine schwierige Situation. Nach dem Verkauf nahezu aller Reihenhäuser gibt es heute weit über 600 private Einzeleigentümer. Sie sind fachlich nicht dazu ausgebildet, müssen ihre unter Denkmalschutz stehenden Häuser aber selbst instand halten. Gemeinsam sind sie in Abstimmung mit der beim Bezirksamt angesiedelten Unteren Denkmalschutzbehörde dafür verantwortlich, dass das fein austariert gestaltete Welterbe-Ensemble homogen erhalten bleibt. Die für Beratung, Genehmigung und Kontrolle zuständigen Behörde war und ist mit dieser Aufgabe jedoch mitunter überfordert. Eklatant war dieser Mangel an Betreuung Mitte der 2000er-Jahre. Aus dieser Situation mit mehreren Hundert nicht hinreichend betreuten Eigentümern heraus entstanden mehrere, aus der Bewohnerschaft selbst vorangetriebene Modellprojekte: 2009-2011 wurde eine Website mit knapp 2000 haus-individuellen Denkmalpflegeplänen entwickelt. Im Kopfbau des Hufeisens wurde 2011 die "Infostation" eingerichtet, eine Kombination aus Café und Ausstellung, die als Treffpunkt für Nachbarn und Anlaufstelle für Welterbe-Touristen dient. Die dort zu sehende Ausstellung wurde später auch als Buch herausgegeben und gehört auch zu der Vorgeschichte dieser Website.
07Website mit 2000 Micro-Sites
Wie variantenreich die weitgehend in Privateigentum umgewandelte Hufeisensiedlung ist, macht eine Zahl deutlich: Es gibt zwar nur vier Hausgrößen mit jeweils zwei Dachtypen. Nimmt man aber alle Details zusammen, unterscheiden Experten unter den 679 Reihenhäusern insgesamt 285 Varianten und Subtypen. Das gleiche gilt auch für die Gärten, die in dieser Zahl noch nicht eingerechnet sind. Um die durch die Privatisierung stetig wachsende Zahl privater Eigentümer über die richtige Erhaltung und Instandsetzung aller denkmalgeschützten Details zu informieren, startete der lokale Verein der "Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung" gemeinsam mit dem Berliner Landesdenkmalamt und zwei vor Ort wohnenden Denkmal-Experten eine Initiative. Sie akquirierten Fördermittel für die Umsetzung einer Website, die 2011 online ging und einen geschützten Zugang zu knapp 2000 haus- oder wohnungsindividuellen Micro-Sites bietet. Nach Eingabe von Passwort, Straße und Adresse gelangt man zu einer individuell zusammengestellten Unterseite mit jeweils eigener Navigation und zahlreichen Detailplänen, Konstruktions-, Material-, Maß-, Pflanz- und Farbangaben. Auch ein Forum, ein Vereins- und ein Geschichtsteil wurden integriert.
09Zeitmaschine "TAUTES HEIM"
Ein spezielles Angebot für Architektur- und Geschichts-Fans ist das Projekt TAUTES HEIM. Hier kann man sich für einige Nächte in ein zeittypisches Zwanziger-Jahre-Ambiente einmieten. Das Haus mit Garten, zwei Schlafräumen und einer Küche zur Selbstversorgung hat den Anspruch eines Museums, funktioniert dabei aber wie ein Ferienhaus. Das von zwei Privatleuten betriebene Projekt ist eine Hommage an den Architekten Bruno Taut, der auch spezielle Vorstellungen zur Gestaltung der Innenräume hatte. Alle zur Bauzeit verwendeten Innenraumfarben wurden genau untersucht und durchgängig originalgetreu, passend zur erstem Anstrich von 1929/30 wieder hergestellt.
Haus und Einrichtung funktionieren tatsächlich wie eine Zeitmaschine. Sie spiegeln den Aufbruch in die sich Moderne wider, die auch vor der Möblierung nicht halt machte. Alle Möbel und Austattungselemente im Haus stammen konsequenterweise entweder aus den 1920er bis 30er Jahren oder wurden nach historischen Vorlagen auf Maß konstruiert. Konzept, Restaurierung und Umsetzung des mietbaren Museum TAUTES HEIM wurde sowohl mit dem Berliner Denkmalpreis, als auch mit dem European Heritage Award ausgezeichnet.
Der etwas ungewöhnliche Name hebt auf eine Redewendung ab, die Ende der 20er Jahre die Runde machte: Bruno Tauts Schriften zu einem zeitgemäßen Wohnambiente waren so populär, dass man damals davon sprach, seine Wohnung zu "tauten". Dies bedeutete, zugunsten einer modernen und zweckmäßigen Einrichtung, auf unnötigen Dekor und die bürgerliche Repräsentation mit allerlei Gardinen, Teppichen, Tapeten und reich verzierten Möbeln zu verzichten.
Hinweis: Ein Besuch des als museumsartigen Ferienhaus genutzten Objekts zu reinen Besichtigungszwecken ist leider nicht möglich. Die Vermietung erfolgt rein über die Website, wo im Rahmen der FAQs auch die Besonderheiten und Hintergründe des Projekts geschildert werden.