Hufeisensiedlung Britz (1925–30)
Rundgang durch die Siedlung
01Stavenhagener Straße
Kommt man aus dem südlichen Ausgang der U-Bahnstation "Blaschkoallee", fällt der Blick rechts direkt in die Stavenhagener Straße. Sie bildet den nördlichen Abschluss der Hufeisensiedlung. Hier befindet sich auf der nördlichen Straßenseite die einzige Zeile, die nicht von Bruno Taut entworfen wurde. Sie stammt von dem Architekten Martin Wagner, der gleichzeitig erster Vorsitzender der 1924 gegründeten Wohnungsbaugesellschaft GEHAG war und ab 1926 zum Berliner Stadtbaurat ernannt wurde. Ähnlich wie bei der sich südlich an U-Bahn-Ausgang anschließenden "Roten Front" erinnern auch die abwechselnd in Ockergelb und Weiß gehaltene Zeilen Wagners mit ihren halbrund herausgezogenen Treppenhäusern an einen Burgwall und bildet eine optisch-akustische Abschirmung zu der etwas stärker befahrenen Blaschkoallee.
02Die "Rote Front"
Die 1925-26 entlang der westlichen Straßenseite der Fritz-Reuter-Allee erbaute Gebäudezeile markiert eine deutliche Grenze. Dies hat mit der Geschichte des auch als "Großsiedlung Britz" bekannten Areals zu tun, das damals unter zwei konkurrierenden Baugesellschaften aufgeteilt wurde. Die vom Architekten Bruno Taut entwickelte, betont moderne Architektur wirkt wie eine Art Burgwall. Wegen ihrer dunkelroten Fassade mit den leicht an Schießscharten erinnernden quadratischen Fenstern in den Treppenhäusern und einer damals im Wohnungsbau noch ungewöhnlichen Flachdachkonstruktion erhielt sie von den Berlinern gleich zwei Spitznamen. Beide machen klar, dass die progressivere Architektur entlang der westlichen Straßenseite eher vom linken Parteispektrum initiiert und gefördert wurde. Man nannte die in zwei etwa 300 Meter lange Teilstücke aufgeteilte Zeile wahlweise "Rote Front" oder "Chinesische Mauer".
03Die Infostation als Treffpunkt
An der Fritz-Reuter-Allee 44, im rechten Kopfbau des Hufeisen befindet sich die Infostation Hufeisensiedlung. Hierbei handelt es um eine Kombination aus Café und Ausstellung, die sich als Startpunkt für Touren, Schulprojekte und Recherchen anbietet. Die Öffnungszeiten sind Freitag und Sonntag Nachmittag. Die zweisprachig (Deutsch und Englisch) realisierte Ausstellung vermittelt Infos zu Geschichte und Gegenwart der Siedlung. Zusätzlich werden auch die anderen fünf Welterbe-Siedlungen, die wichtigsten Planer sowie einige berühmte Bewohner/innen vorgestellt. Die Wandfarben des ehemaligen Ladenlokals wurden nach historischem Vorbild restauriert. Außerdem ist eine authentische Kücheneinrichtung zu sehen, die im Auftrag der GEHAG für eine vergleichbare Siedlung in Berlin-Zehlendorf entwickelt wurde. Der ans Café angeschlossene Buchladen hält eine kleine Auswahl von Büchern und Broschüren zu den Siedlungen bereit. Das Ganze wird von einem lokalen Förderverein und einer Reihe von ehrenamtlich engagierten Bewohner/innen betrieben. Auch in oder aus der Siedlung produzierte Waren, wie etwa Postkarten, T-Shirts oder Honig, sind im Angebot.
04Hufeisen-Vorplatz
Auf der Höhe des Hufeisens wird die als "Rote Front" bezeichnete Zeile entlang der Fritz-Reuter-Allee durch einen Vorplatz unterbrochen. Der Horizont weitet sich und gibt den Blick ins Innere des 350 Meter langen Wahrzeichens frei. Auf dem Platz befinden sich einige Bänke und in einem regelmäßigen Raster gepflanzte Bäume. In den Erdgeschossen gibt es kleinere Ladenlokale. Hier befanden sich früher Geschäfte mit Waren des täglichen Bedarfs, die den Bewohnerinnen und bewohnern auch als Treffpunkt dienten. Einige der ehemaligen Ladenlokale haben heute eine ähnliche Funktion. So gibt es neben einem kroatischen Restaurant auch einen kleinen Backshop sowie die sogenannte Infostation, wo man sich mit Nachbarn auf einen Kaffee trifft und auch eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Siedlung besuchen kann.
05Hufeisen, Teich und Grünanlagen
Zu fast jeder Wohnung im Hufeisen gehört eine himmelblau gestrichene, balkonartige Loggia. Von dort fällt der Blick auf ein teichartiges Wasserbecken, das nicht nur optisch einen Mittelpunkt bilden sollte. Hier wollte der Gartenarchitekt Leberecht Migge einen Ort der Begegnung mit maximalem Erholungswert schaffen und plante eine Art City-Beach mit Liegewiese am Uferrand. Leider entschied sich – sehr zum Ärger Migges – der Bezirk Neukölln als Besitzer der inneren Grünfläche gegen eine dem Kerngedanken entsprechende Umsetzung dieses Vorschlags und realisierte stattdessen eine kostengünstiger zu pflegende Anlage mit kleinen Hecken und Absperrgittern. Nicht immer war die Anlage rund um Teich und Hufeisen hinreichend gut gepflegt. Ein in zwei Bänden 2003 und 2009 erstelltes Gutachten brachte viele neue Erkentnisse und legte die Basis für erste Wiederherstellungsarbeiten. Der besondere Wert der Grün- und Freiflächen wurde 2010 mit der zusätzlichen Eintragung als Gartendenkmal unterstrichen. 2010 wurde dann der vier Meter breite Vorgartenstreifen rund ums Hufeisen denkmalgerecht wieder neu angelegt und bepflanzt.
06Die Wohnungen im Hufeisen
Alle Wohnungen innerhalb des Hufeisens verfügen über eine eigene Küche, ein eigenes Bad sowie mindestens zweieinhalb Zimmer und eine Loggia, die wie ein überdachter Balkon funktioniert. Der häufigste kleinere Wohnungstyp ist 54 qm groß. Das erscheint uns heute normal, war aber damals – zumindest für die weniger Reichen – ein absoluter Luxus und entsprach den vorab definierten Mindeststandards des reformorientierten Wohnungsbaus. Verglichen mit der typischen, oft extrem beengten Wohnsituation im zweiten oder dritten Hinterhof boten die Wohnungen im Hufeisen eine sehr hohe Lebensqualität und waren vom Start weg entsprechend begehrt. Das größte Los zogen die Mieter im Erdgeschoss, denn hinter den Hecken verbirgt sich jeweils ein langer, schmaler Garten, der mit zwei regelmäßig platzierten Obstbäumen bepflanzt wurde. Das war schön und praktisch zugleich: Im Frühjahr zeichneten die zwei Reihen blühenden Bäume die Form des Hufeisens nach, im Herbst hatten die Bewohner Obst aus dem eigenen Garten.
07Die/der/das "Hüsung"
Selbst die Anwohnerschaft des direkt westlich hinter dem Hufeisen gelegenen, rautenförmigen Platzes streiten sich bisweilen, ob es der, die oder das "Hüsung" heißen muss. Fragt man die Sprachwissenschaftler, ist die Antwort aber eindeutig: Die Wortendung -ung ist im Deutschen immer weiblich. Aber was bedeutet diese sonderbare Bezeichnung eigentlich? Wer durch die Siedlung läuft, wundert sich oft über die zum Teil merkwürdigen Straßennamen. Sie alle gehen zurück auf den Autor Fritz Reuter und dessen Werk. Seine Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Romane handelten vom Leben der einfachen Leute und waren in einem norddeutschen Dialekt geschrieben. "Hüsung" zu gewähren, bezeichnet im Norddeutschen das vom Gutsherrn verliehene Recht, sich an einem Ort niederzulassen, sein Haus bauen und dort eine Familie gründen zu dürfen. Das passte natürlich zu dem Platz, der eine dörfliche Ruhe ausstrahlt. Einmal im Jahr herrscht hier jedoch reges Treiben. Dann nämlich, wenn hier ein großes Nachbarschaftsfest mit mehreren Bühnen und breitem Unterhaltungsprogramm veranstaltet wird.
08Hufeisensiedlung, Bauphasen 3/4/5
Geht man an der Kreuzung Parchimer Allee Richtung Osten, passiert man auf der linken Straßenseite die den DEGEWO-Siedlungsteil südlich begrenzenden Geschossbauten. Auf der rechten Straßenseite kommt der ab 1931 errichtete siebte Bauabschnitt der Hufeisensiedlung in den Blick, der jedoch als gesondertes Denkmal eingetragen ist und nicht im engeren Sinne zum Welterbe gehört. Nach rund 300 Metern entlang der Parchimer Allee gelangt man dann zur Buschkrugallee, einer Verlängerung der bekannten und am Hermannplatz startenden Neuköllner Verkehrsachse Karl-Marx-Straße. Hier finden sich – aufgrund der Randlage meist weniger beachtet – die Bauabschnitte 3 bis 5 der Hufeisensiedlung. Vor dem 1963 erfolgten Ausbau der benachbarten U-Bahnlinie 7 verkehrte hier eine Trambahn. Bei den zwischen 1927 und 1929 entlang der Buschkrugallee errichteten Bauten handelt es sich ausschließlich um denjenigen Typus, wie er im ersten und zweiten Bauabschnitt vor allem an deren Rändern errichtet wurde – straßenbegleitende, flach gedeckte, dreieinhalbgeschossige Häuserblöcke. Sie fassen insgesamt 453 Wohnungen. Auch hier dominieren 1,5 und 2 Zimmer große Wohnungen. Reihenhäuser wurden hier – im Gegensatz zu den Bauabschnitten I, II und VI – nicht realisiert. In die Straßenfront sind einzelne Ladenlokale integriert, was an Eckformationen mitunter zu interessanten Lösungen führt. Die südlichen Bauten des dritten und die beiden Zeilen des fünften Bauabschnitts formen ein Dreieck, in dem sich Mietergärten und eine große, gemeinschaftlich genutzte Grünanlage befindet. Sie ist umgeben von Gärten, die jeweils der Erdgeschosswohnung zugeordnet sind.
09Hufeisensiedlung, Bauphase 6
Viele Besucherinnen und Besucher denken, dass die Hufeisensiedlung südlich der Parchimer Allee endet. Das stimmt jedoch nicht. Als Welterbe und zusammenhängendes Denkmal-Ensemble eingetragenen sind die zwischen 1925-30 entstandenen ersten sechs Bauabschnitte der Hufeisensiedlung. Dies schließt auch die beiden wie Kreissegmente geformten Parzellen Richtung Gielower und Talberger Straße mit insgesamt 207 flachgedeckten Reihenhäusern und mehrere entlang der größeren Straßen geführte dreieinhalbgeschossige Zeilenbauten mit ein.
Scharnier zwischen zwei Leitbildern des Städtebaus
Der Vergleich der ersten beiden, dörflich idyllischen Bauabschnitte nördlich der Parchimer Allee mit dem deutlich moderner wirkenden, sich südlich anschließenden sechsten Abschnitt von 1929-30 ist bauhistorisch sogar besonders interessant. Hier lässt sich nämlich der Übergang zwischen den zwei großen städtebaulichen Paradigmen des frühen 20. Jahrhunderts direkt ablesen: der Gartenstadt-Bewegung und dem zeilenbasierten Großsiedlungsbau. Die Häuser südlich der Parchimer Allee betritt man durch den Garten. Sie haben kostengünstiger konstruierte und moderner wirkende Flachdächer und eine neue Art der Fensterkonstruktion, die deutlich mehr Glasflächen und bessere Lüftungsmöglichkeiten erlaubt. Die Anordnung in parallelen Zeilen wurde später ab den 1930er-Jahren zu dem typischen, international favorisierten Modell des Siedlungs- und Wohnungsbaus. Man findet es nicht nur hier in Britz, sondern auch in Teilen der Weißen Stadt in Reinickendorf und der Ringsiedlung Siemensstadt. Noch direkter sind jedoch die Bezüge zu den U-förmigen organisierten Bauten der ebenfalls von Bruno Taut entworfenen Wohnstadt Carl Legien. Sie lassen sich als eine direkte, noch kostensparender geplante Weiterentwicklung des sechsten Bauabschnitts der Hufeisensiedlung lesen.
10Erweiterung + Veränderung 1931–34
Zum UNESCO-Welterbe Hufeisensiedlung zählen die ersten sechs Bauabschnitte. Sie entstanden zwischen 1925 und 1930. Aber auch danach, nach dem Weggang Tauts und zur NS-Zeit wurde die Siedlung noch weiter Richtung Süden erweitert. Weitere sehenswerte Abschnitte finden sich am südlichen Ausgang des U-Bahnhofs Parchimer Allee:
1931/32 – In dem von Bruno Taut geprägten GEHAG-Stil
Nach Süden schließen sich [westlich der Fritz Reuter-Allee, zwischen Parchimer Allee und Gielower Straße] weitere Abschnitte in dem typischen Stil der Zwanziger Jahre an. Sie gehören nicht zum Welterbe und sind als separates Denkmal eingetragen, da hier (wegen der großen Inflation) weiter gespart werden musste, so dass die ursprünglich definierten Mindeststandards des öffentlichen Wohnungsbaus unterschritten wurden.
Ab 1933 – Formal angepasste Erweiterungen aus der Nazi-Zeit
Südlich der Gielower Straße sieht man, wie die Wohnungsbaugesellschaft ab 1933 ihren Baustil änderte. Grund war die frühzeitig erfolgte Gleichschaltung durch die Nazis, bei der zunächst das Management ausgetauscht wurde und man dann wieder einen deutlich traditionelleren Baustil bevorzugte. Bunte Farben, moderne Flachdächer und originelle Details passten nicht in das nationalsozialistische Weltbild. Stattdessen errichtete man Bauten mit farblos grauen Fassaden, einfachen Giebeldächern und deutlich massiver wirkenden Hauseingängen.
11Erweiterung 1954–56 durch Max Taut
Geht man vom U-Bahnhof entlang der Parchimer Allee nach Westen, passiert man jenseits der Paster-Behrens-Straße Ergänzungsbauten aus den 1950er-Jahren, die sehr deutlich, Stilelemente der Hufeisensiedlung aufgreifen. Sie wurden jedoch nicht Bruno Taut, sondern von dessen jüngerem Bruder Max Taut entworfen, der mit Bruno und Franz Hoffmann gemeinsam das Büro "Taut & Hoffmann" betrieb. Anders als Bruno, arbeitete Max Taut auch nach dem Krieg noch als Architekt in Berlin und setze hier die Arbeit seines Bruders stilistisch sensibel fort. So greifen etwa auch die Bauten von Max Taut, bewusst die städtebauliche Anordnung, die Fassaden- und Fensterfarben, die typischen Wohnungsgrundrisse und die äußere Form der Wohnblöcke der ersten sechs Bauabschnitte auf. Der deutlichste Unterschied besteht bei den Treppenhausfenstern, die von Max Taut sehr großflächig mit Einfachverglasung mit Stahlrahmen entworfen wurden. Das ist so eher typisch 1950er-Jahre Auch die vorgelagerten Pavillionbauten mit Ladenlokalen, weisen typische Elemente der der 1950er-Jahre auf. Aufgrund des zeitlichen Versatzes existiert für die Bauten von Max Taut entsprechend ein eigener Eintrag in die Berliner Denkmalliste.
12Schloss und Gutshof Britz
Nur wenige hundert Meter westlich der Großsiedlung liegt das charmante historische Ensemble aus Park, Schloss und Gutshof Britz, dem der Bezirk seinen Namen verdankt. Das auf ein ehemaliges Rittergut zurückzuführende, heute als Kulturstandort genutzte Gelände rund um das im Neorenaissance-Stil gehaltene Schloss gehört nicht zur Siedlung. Es bildet aber mit zwei Museen, mehreren Restaurants, einem Freigelände für historische Haustierrassen sowie verschiedenen Bühnen und Veranstaltungsorten ein weiteres touristisches Highlight in kurzer Laufdistanz. Speziell die Ausstellungen des 2010 hierhin umgesiedelten Museums Neukölln sind sehenswert. Das Umland der Schlossanlage war 1925, vor Aufnahme des Siedlungsbaus, noch fast gänzlich unbebaut und wurde von großflächigen Acker-, Wiesen- und Rosenaufzuchtsflächen dominiert.