Ringsiedlung Siemensstadt (1929–34)
Stories zur Siemensstadt
01Ist das Bauhaus-Architektur?
Nein, das stimmt so im engeren Sinn nicht. Zwar wird die Architektur der Moderne der 1920er-Jahre und auch die sechs "Siedlungen der Berliner Moderne" oft pauschal als Bauhaus-Architektur bezeichnet – ein Label, das auf die 1919 in Weimar gegründete Kunst- und Designschule – das Staatliche Bauhaus – abhebt. Aber diese in den Medien und auch bei Führungen durch die Siedlungen oft geäußerte Zuschreibung taugt allenfalls als Merkhilfe. Tatsächlich hatten nur sehr wenige der in Berlin aktiven Planer/innen tatsächlich an der namensgebenden Schule gelehrt oder studiert.
Auch sonst wird oft allzu pauschal von einem "Bauhaus-Stil" gesprochen, wenn etwas zeitlos modern gestaltet ist. In Wahrheit sind die Wurzeln der vermeintlich originären kubisch-klaren Formensprache ungleich vielfältiger und internationaler als das gern bemühte Etikett vermuten lässt. Die Wurzeln der Klassischen Moderne liegen vielmehr in der Industrialisierung und den verschiedenen Reformbewegungen, die sich damals in mehreren Ländern nahezu parallel und außerhalb Deutschlands zum Teil schon deutlich früher entwickelt hatten. Hierzu zählt beispielsweise die Gartenstadt-Bewegung. Sie griff um die Jahrhundertwende aus England auf den Kontinent über und bildete die ideengeschichtliche Grundlage für die Anlage der Gartenstadt Falkenberg sowie zahlreicher anderer reformorientierter Siedlungsprojekte.
Eine wichtige Rolle spielte in Deutschland der 1907 gegründete Deutsche Werkbund – eine Vereinigung, in der fast alle großen Architekten und Gestalter der damaligen Zeit organisiert waren und um Ideen und Konzepte stritten. Auch viele der (insgesamt sechzehn) bei den Berliner Welterbe-Siedlungen involvierten Planer waren Werkbund-Mitglieder, nur drei jedoch stehen zusätzlich auch mit dem Bauhaus in Zusammenhang.*
Was man in Deutschland außerdem gerne übersieht: auch andernorts gab es viele einflussreiche Konzepte und gut vernetzte Gruppen, die einen modernen, nicht an historischen Vorbildern orientierten Gestaltungsstil forderten. Hier ist etwa die Arts and Crafts-Bewegung, die niederländische Gruppe "De Stijl" oder der Funktionalismus russischer und tschechischer Prägung zu nennen.
* Gut zu wissen: Wenn das Bauhaus-Label überhaupt bei einer der sechs Siedlungen Sinn macht, ist dies die Ringsiedlung Siemensstadt. Sie ist zwar kein vom Bauhaus ins Leben gerufenes Projekt, aber zumindest war der Bauhaus-Gründer Walter Gropius einer der entwerfenden Architekten. Und auch Fred Forbat und Otto Bartning – zwei weitere dort beteiligte Planer – hatten zumindest gewisse Bezüge zum Bauhaus.
01Vorbild für die 1950er-Jahre
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren erneut große Anstrengungen nötig, um die Bevölkerung mit Wohnraum zu versorgen. Das Ideal der Nachkriegszeit und der beginnenden 1950er-Jahre war zwar das Einfamilienhaus mit Garten. Doch daran, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sich diese Wohnform nicht leisten konnte, kam man auch außerhalb der großen Metropolen nicht vorbei. Abseits der Orts- und Stadtzentren mussten platz- und ressourcenschonende Formen des Wohnungsbaus gefunden werden. Die wenigen Siedlungen, die sich – wie die Ringsiedlung Siemensstadt – schon in den späten1920er- und frühen 1930er-Jahren vorgenommen hatten, die vorhandene Landschaft in den Geschosswohnungsbau einzubeziehen, wurden nun zum Vorbild. Das europaweite Leitbild für die 1950er-Jahre wurde die gegliederte und aufgelockerte Stadt mit behutsam gestalteten Freiräumen zwischen einzelnen mehrgeschossigen, einander möglichst wenig verschattenden Bauten.
01Achtung, Berliner Schnauze
In der Ringsiedlung Siemensstadt befindet sich eine Gebäudezeile Otto Bartnings, welche in weitem Bogen parallel zur Bahntrasse verläuft. Sie wurde von den Berlinern auf den Namen Der Lange Jammer getauft. Man kritisierte, dass Bartning die Monotonie der Mietskasernen nur durch eine moderne Variante ersetzt hätte.
Ein ähnlicher Bau befindet sich in der Hufeisensiedlung, die Taut im Auftrag der politisch links stehenden Wohnungsbaugesellschaft GEHAG entwarf. Hier wurden die zur Abgrenzung beider Siedlungsteile dienende Zeile gleich mit zwei sprechenden Namen bedacht. Hier sprach man wahlweise von der Roten Front oder der Chinesischen Mauer.
Auch in der Waldsiedlung "Onkel Toms Hütte" in Berlin-Zehlendorf erforderte die Lage einen ähnlich lang gestreckten Bau. Hier entwarf Taut ein Gebäude, das sogar noch ein wenig länger ist. Und auch hierfür fanden die nicht auf den Mund gefallenen Berliner/innen einen geeigneten Namen und bezeichneten die Zeile als den Peitschenknall.
Und natürlich sorgte auch die für Taut typisch intensive Farbigkeit für entsprechende Namens-Kreationen: Die Gartenstadt Falkenberg wurde Kolonie Tuschkasten genannt. Die Waldsiedlung Zehlendorf erhielt hingegen den Beinamen Papageien-Siedlung.
03Idee der Dachterrassen
Wie für viele andere Architekten war der Wohnungsbau auch für Walter Gropius ein Instrument, um nicht nur soziale und städtebauliche, sondern auch um gesundheitspolitische Probleme zu lösen. Allgemein herrschte von der Jahrhundertwende um 1900 bis in die 1930er-Jahre das Bewusstsein, dass die großstädtischen Wohnverhältnisse mit den dunklen Hinterhöfen, mangelnder Frischluftzufuhr und Emissionen von Industriebetrieben verantwortlich für die große Verbreitung der Tuberkulose in der Arbeiterklasse waren. Die flachen Dächer mit Dachgärten sollten die Werktätigen vor Immunschwäche schützen und den Kranken helfen, gesund zu werden. Die Dachterrassen waren für die Familien der oberen beiden Geschosse geplant, die Familien der beiden unteren Geschosse sollten in den Gartenhöfen Sitzflächen vorfinden. Beides wurde jedoch nicht recht angenommen.
05Falsche Kudamm-Eleganz
Gropius Zeilenbauten am Jungfernheideweg wurden vielfach gerühmt wegen ihrer hohen Eleganz. Aber gerade wegen dieser Eleganz gab es auch Kritik . Sie wurde formuliert von Adolf Behne. Behne war selbst Architekt, Mitglied des Rings und auch Architekturkritiker. Er bezichtigte Gropius, sich in einer „Mode der Fasssadengraphik“ zu bewegen. Gropius hat bei schneeweißer Wand des Gebäudes die Pfeiler zwischen den Fenstern und Balkons zweier benachbarter Wohnungen schwarz aufgemauert. Dadurch entstehen optisch lange Fensterbänder und scheinbar lange Balkone. Dahinter wird man keine bescheidenen Kleinstwohnungen mehr vermuten, sondern an weitläufige, elegante „Kurfürstendamm-Etagen“ denken. Einen gekonnten Ausgleich des Intimen der Kleinwohnung mit dem Monumentalen des stilistisch einheitlichen Zeilenbaus habe, so Behne, hat hingegen Hugo Häring mit seinen Bauten erreicht.
06Scharouns ehemaliges Atelier
Scharouns Vorstellungen zum nachbarschaftlichen Wohnen sind in Teilen in der Ringsiedlung und in der Siedlungserweiterung um die Heilmannstraße immer noch lebendig. Ein Klingelschild am Heilmannring 66 A suggeriert sogar, dass er selbst noch dort lebt. Prof. Scharoun steht da als einziger Name. Hier hatte Scharoun im 8. Stock tatsächlich sein Atelier eingerichtet. Durch die schräge Stellung erreichte er, dass viel Licht hereinkam, aber kein direktes Sonnenlicht, ideal für die künstlerische Arbeit. Nach seinem Tod 1972 bewohnte seine Frau, die Modejournalistin Margit von Plato, die Künstlerwohnung weiter bis 1985. Es gab keine Erben, aber es fand auch keine Wohnungsauflösung seitens der GSW statt. Der Vorstand der GSW nutzte sie anfangs noch manchmal als Gästewohnung. Heute finden gelegentlich Führungen statt. Scharoun zählt damit zu den ganz wenigen Architekten, die wirklich in eine Großsiedlung eingezogen sind, die sie geplant haben. Das galt auch schon für die Ringsiedlung Siemensstadt, wo Scharoun 1930 eine Wohnung bezogen hatte. Damit hatte er auch endlich sein seit 1927 bestehendes Problem gelöst, dass er keine Wohnung in Berlin finden konnte.
07Stahlrohrmöbel in der Siemensstadt
Die in der Ringsiedlung Siemensstadt wohnenden Frauen sollten mehr Gelegenheit haben, die private Wohnung auch mal zu verlassen. Dies wurde auch durch das „Waschparadies“ mit seinen ultramodernen Waschmaschinen angeregt. Damit sie die Kinder leichter dorthin mitnehmen konnten, gab es dort sogar Spielräume. Sie waren mit eigens von Mies van der Rohe entworfenen, kindgerecht dimensionierten Stahlrohr-Freischwingern ausgestattet. Stahlrohrmöbel waren in den 1920er/30er-Jahren eine der sensationellsten Neuentwicklungen im Einrichtungsbereich. Wer sie tatsächlich erfunden hat, ist umstritten. Jedenfalls waren Mart Stam, Marcel Breuer sowie auch Le Corbusier und die Ring-Architekten Ludwig Mies van der Rohe sowie Hans und Wassili Luckhardt an ihrer Entwicklung beteiligt. Stahlrohr als Material eignete sich zur industriellen Herstellung und stand für den Aufbruch in die Moderne und das populäre Motto "form follows function". Scharoun führte mit seiner Wohnung Jungfernheideweg 8 vor, dass für diese kleinen 58-qm-Wohnungen die leicht wirkenden, konstruktionsbedingt federnden Stahlrohrmöbel ideal waren. Die Wohnungen der meisten Mieter/innen dürften mit ihren herkömmlichen massiven Holz- und Polstermöbeln deutlich dunkler und weniger lichtdurchflutet gewirkt haben.
08Gleichschaltung im Staatsdienst
Die Architekten Adolf Rading und Hans Scharoun, beide Mitglieder der Architektenvereinigung "Der Ring" teilten sich in Berlin ein freies Architekturbüro. Sie waren gleichzeitig in Breslau an der Universität beschäftigt. Als Hochschullehrer waren sie Beamte. Als 1933 das Gesetz "Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" erlassen wurde. verloren sie diese Stellung. Rading hat ein ausführliches Gedächtnisprotokoll hinterlassen. Es zeigt wie mit den Architekten des Neuen Bauens umgegangen wurde. Am 16.07.1933 begründet der neue Vorsitzende des einst fortschrittlichen Deutschen Werkbunds, der Nationalsozialist Wendland, gegenüber Rading die Entlassung aus dem Staatsdienst:
- "Ja, sie gehören zu den Exponenten der modernen Architektur und daher passt Ihre Weltanschauung nicht zu der unseren."
- "… die moderne Architektur hat sich zu sehr vom Volksempfinden entfernt, eine neue Kunst kann nicht erdacht werden, sie kann nur aus dem Volke heraus wachsen"
- "Sie haben z.B. das Miethaus propagiert und damit haben Sie sich ganz aus der nationalsozialistischen Weltanschauung herausgestellt und haben zur Verelendung unseres Volkes mit kapitalistischer Grundlage beigetragen …… Wir wünschen die Erdverbundenheit des Volkes!"
09Volkspark Jungfernheide
Östlich von Spandau lag die Jungfernheide, ein ausgedehntes Wald- und Heideland, das sich nicht für den Ackerbau eignete. Genutzt wurde es zunächst als Jagdgebiet für die Brandenburger Kurfürsten und preußischen Könige. Dann folgten militärische Nutzungen, etwa durch Artillerie-Schießplätze oder für Luftschiffe. Die Stadt Charlottenburg kaufte 1904 einen großen Teil des Geländes im Norden, um dort einen Park für die werktätige Bevölkerung anzulegen. Nach einigen Verzögerungen begannen die Arbeiten 1920 und endeten 1927. Den Entwurf übernahm der Charlottenburger Gartenamtsleiter Erwin Barth. Der axial angelegte Park sah im geometrischen Kernbereich eine intensive Nutzung vor: Freibad, Spielwiese, Gartentheater und Rudermöglichkeit. Er erfüllte damit das zentrale Kriterium eines Volksparks, dessen Konzept vorsah, dass Parkanlage nicht rein repräsentativ zu gestalten sind, sondern auch zur Erholung, konkreten Nutzung und sportlichen Betätigung dienen sollen. Dies entsprach auch dem Geist, in dem die Berliner Welterbe-Siedlungen erbaut wurden. Dies erklärt auch, warum neben Erwin Barth auch die beiden beim Bau der Welterbe-Siedlungen beteiligten Gartenarchitekten Leberecht Migge und Ludwig Lesser zu den Wegbereitern des Volkspark-Gedankens zählen. Der Teil südlich des Parks wurde für die neue Großsiedlung ausgewählt. Die schönen Baumgruppen und der Charakter als Wiesenlandschaft sollten erhalten bleiben.
10Grünflächen in der Siemensstadt
Bei der Gestaltung der Freiflächen der Ringsiedlung Siemensstadt ging es nicht nur um den Erhalt vorgefundener Natur, sondern auch um eine eigene Form der Grüngestaltung der Siedlung. Dazu gehörten die mit Kletterpflanzen und Sträuchern gestalteten Müllhäuser im Teil Häring, für deren Dächer eine Bepflanzung mit Sonnenblumen und Kapuzinerkresse geplant war. Und auch die neben die gläsernen Treppenhäuser gesetzten Pappeln und die Dachterrassen bei den Bauten von Gropius, waren Teil dieser Bemühungen. Verschiedene Maßnahmen wurden ergriffen, um den Bezug zum nördlich gelegenen großen Jungfernheidepark zu stärken. Die sich nördlich der Zeilen Härings anschließenden Freiflächen sind parkartig von geschwungenen Fußwegen durchzogen. Die Zeilen Härings werden nur zweistöckig ausgeführt und mit Dachgärten versehen. Birkenpflanzungen leiten zum Volkspark hin. Erst im 2. Bauabschnitt – im Bauteil von Paul Rudolf Henning, der unter anderen Voraussetzungen errichtet wird – entstehen auch einige Mietergärten.